Realitätscheck
16. Juni 2020
Felix Herrmann, CFA
BlackRock Kapitalmarktstratege
Realitätscheck: Fed-Chef Jerome Powell gab letzte Woche den Spielverderber. Indem er aussprach, was viele ohnehin schon seit geraumer Zeit befürchten, nämlich, dass die US-Wirtschaft noch lange Zeit brauchen wird, um zu der Verfassung von vor der Corona-Krise zurückzukehren, schickte er die Märkte auf Talfahrt. Mit einem erwarteten Minus von 6,5 Prozent in diesem Jahr steht der US-Wirtschaft auch aus Sicht der Fed ein historisch schlechtes Jahr ins Haus. Man habe, so Powell, deshalb auch nicht einmal darüber nachgedacht darüber nachzudenken, die Zinsen anzuheben. Bis mindestens Ende 2022 gilt diese neue „Forward Guidance“. Gleichzeitig erteilte Powell jedoch auch weiteren Zinssenkungen indirekt eine Absage, womit die Fed nun auch wie die EZB in Sachen Zinspolitik mit dem Rücken zur Wand zu stehen scheint. Womöglich könnte die US-Notenbank aber schon bald wieder als Impulsgeber gefragt sein, denn nach wie vor hält das Coronavirus die USA in Atem. Gefühlt kommen die Lockerungsmaßnahmen in vielen Bundesstaaten viel zu früh. In gleich einem Dutzend Staaten – darunter Texas und Florida – lag die Zahl der täglichen Neuinfektionen letzte Woche auf einem neuen Allzeithoch. Der Wettlauf darum, welcher Gouverneur unter hohem wirtschaftlichem Druck möglichst rasch die umfangreichsten Lockerungsmaßnahmen beschließt, erhöht in den USA die Gefahr einer zweiten Welle (beziehungsweise einer anschwellenden ersten Welle in einigen Bundesstaaten) ganz erheblich – und damit auch die Gefahr weiterer negativer Auswirkungen für die US-Wirtschaft.
Nicht zuletzt aufgrund eines wenig vorbildlichen Handlings der Pandemie in den USA wird die US-Wirtschaft nicht nur lange brauchen, um die negativen Auswirkungen der Krise abzuschütteln, sondern aller Voraussicht nach werden die USA auch mehr Zeit benötigen als die meisten europäischen Staaten. Diese Ansicht ist mittlerweile offenbar auch an den Märkten mehrheitsfähig, was wiederum in Teilen die Outperformance europäischer gegenüber US-amerikanischer Risikoaktiva seit Mitte Mai erklärt. Um mehr als fünf Prozentpunkte hat der MSCI Eurozone seit Mitte Mai besser abgeschnitten als der MSCI USA. Zwischenzeitlich lag das Plus seit Mitte Mai sogar bei acht Prozentpunkten – und das, obwohl der Euro in derselben Phase im Vergleich zum US-Dollar deutlich aufgewertet hat, was normalerweise eher Gegenwind für Eurozonenaktien bedeutet.
Was bedeutet das für Anleger?
Kurzfristig dürfte die Aussicht darauf, dass Europa schneller aus dem Corona-Tief herauskommt, europäischen Risikoaktiva gut zu Gesicht stehen. Schließlich gibt die Erwartung, wie stark die Corona-Krise die einzelnen Volkswirtschaften trifft, aktuell klar den Takt an den Märkten vor. Europäische Aktien könnten somit durchaus noch eine Weile die Nase gegenüber ihren US-Pendants vorne haben – insbesondere dann, wenn sich die Weltwirtschaft ganz generell weiter erholt, was traditionell wiederum eher „zyklischen“ Regionen wie der Eurozone mehr Rückenwind verleiht.
Wer jetzt das große Comeback europäischer Aktien ausruft, könnte jedoch bald eines Besseren belehrt werden. Schließlich sägt die Corona-Krise an genau jenem Ast, auf dem große Teile der europäischen Wirtschaft sitzen: einer integrierten Weltwirtschaft. Vermutlich werden wir in zehn oder zwanzig Jahren auf die aktuelle Zeit zurückschauen und sie als den großen Wendepunkt der Globalisierung ausmachen. Keine Frage: Der Trend der De-Globalisierung hat sich bereits vor der Corona-Krise breit machen können. Durch die Krise erfährt er jedoch eine dramatische Beschleunigung, der viele über Jahre etablierte Wertschöpfungsketten schon sehr bald auseinanderreißen dürfte. In einer Umfrage gaben 89 Prozent der CFOs in den USA an, aufgrund der Corona-Krise die Wertschöpfungsketten ihrer jeweiligen Unternehmen widerstandsfähiger machen zu wollen – und das sogar recht bald, was wiederum fast zwangsläufig auf Kosten der Effizienz gehen wird. „Just-in-time“ wird also zu „just-in-case“.
Denkt man diese Entwicklung zu Ende, landet man recht schnell bei der Erkenntnis, dass jene Regionen, die besonders stark von einem Funktionieren des Welthandels und an international integrierten und effizienten Wertschöpfungsketten abhängen, stärker unter den Spätfolgen der gegenwärtigen Krise leiden werden. Zu diesen Regionen zählt zweifelsohne Europa. Da die Corona-Krise auch den Megatrend der Digitalisierung befeuert, von dem Europa ebenfalls weniger stark profitieren dürfte als die USA mit ihren großen Tech-Giganten, spricht langfristig wenig für eine nachhaltige Outperformance europäischer Aktien.
Noch viel höher als in Europa dürfte der strukturelle Schaden der Krise allerdings in den Schwellenländern ausfallen. Die letzten 40 Jahre haben den Emerging Markets einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg beschert. Wird die Globalisierung zurückgedreht, leiden spiegelbildlich wohl ganz besonders die verlängerten Werkbänke Chinas und der westlichen Welt, die in den letzten Jahrzehnten dank der Globalisierung ihren Wohlstand beträchtlich steigern konnten.